Andreas Prodehl - Autor von Fossil, Lumpenball, Neckarstadt Sinfonie | Leseprobe: Fossil - Band 1: Edinburgh

Leseprobe: Fossil - Band 1: Edinburgh

1. Grassmarket, Edinburgh, »The Dead Ox« Pub

Simon Shaw, Professor für Molekulararchäologie, griff nach seinem Scottish Ale, das vor ihm auf dem kleinen Holztisch stand.

Sein Gegenüber, Wissenschaftsjournalist George Denborough, redete sich gerade in Rage, während für Shaw das kühle, dunkle Bier mehr und mehr an Attraktivität gewann.

So sieht also meine letzte Option aus, dachte Shaw. Reine Zeitverschwendung. Shaw wusste, er durfte nicht resignieren, aber das sagte sich so einfach.

»Game Over« beschrieb seine Situation perfekt.

Die riesige Fensterscheibe hinter Denborough zerplatzte. Tausende Splitter regneten zu Boden.

Kurz flackerte das Bild eines Wasserfalls aus Scherben vor Shaws geistigem Auge auf, während Denboroughs Kopf mit Wucht nach vorne geworfen wurde. Der Journalist starb, bevor sein Kopf auf der Tischplatte aufschlug.

Simon Shaws Instinkte übernahmen das Kommando. Sekundenbruchteile später lag er auf dem Boden.
Die Erfahrungen der Tage zuvor zeigten: Ein Sniper war nicht das Letzte, was er hatte erwarten dürfen.

*

2. Der Anschlag

»The Dead Ox Pub.« Ein paar Minuten zuvor.

»Ein Pint Ale bitte«, rief Simon Shaw einem Barkeeper hinter der dunkelgebeizten Bar zu.

»Kommt sofort«, gab dieser zurück, während er geschickt mehrere Zapfhähne gleichzeitig bediente.

Shaws Aufmerksamkeit wurde durch zwei Flügeltüren auf der anderen Seite der Theke erregt. In den Türen waren große Bullaugen eingelassen, die es ihm gestatteten, das Geschehen in der Küche zu beobachten. Köche und Gehilfen jonglierten geschickt mit Töpfen und Pfannen. Es dampfte, spritzte, köchelte und anscheinend arbeitete man an den Arbeitsflächen perfekt Hand in Hand.

»Bitte sehr. Macht drei Pfund zwanzig.«

Er nahm das Bier und legte das Geld inklusive Trinkgeld auf den blankpolierten Tresen. Der Barkeeper bedankte sich und Shaw widmete sich wieder dem Geschehen und den Örtlichkeiten in der Küche. Die eigene Umwelt bewusst wahrzunehmen und Details abzuspeichern – vergessen geglaubte Eigenschaften, die bei ihm wohl nur unter der Oberfläche geschlummert hatten. Heute, da er sie nach langer Zeit von Neuem benötigte, tauchten sie mit beeindruckendem Timing, wie gute alte Freunde wieder auf und halfen, wenn es brenzlig wurde, beim Überleben.

Shaw sah geschäftiges, lärmendes Personal, sowie einen Hinterausgang. Beides gefiel ihm. Mit einem Lächeln - dem ersten seit Tagen – spülte er einen großen Schluck Scottish Ale hinunter. Er stellte das Glas auf den Tresen und sofort stiegen ihm die typischen Gerüche eines traditionellen Pubs in die gebrochene Nase. Eine einzigartige Mischung. Bier, Cidre, Whisky, dunkle, fleischige Soßen, Chips und jede Menge andere, ungesunde, aber dafür köstliche Erzeugnisse der schottischen Küche.

Ein Wunder, dass ich überhaupt was rieche. Es hatte in letzter Zeit einige unschöne Konfrontationen gegeben, deren Folgen selbst im schummrigen Licht eines schottischen Pubs unübersehbar waren. Er betastete vorsichtig die schmerzende, verbogene Nase und die geschwollenen blaugrünen Jochbeine. Es hatte einen Toten gegeben und nur mit Glück hatte er den Tag überlebt. Unbewusst legte er die andere Hand auf die Innentasche seines Sakkos. Er spürte einen Revolver – und für einen kurzen Moment stand er wieder in Sibirien auf einem alten abgehalfterten Landflughafen. Ohne Waffen hätte es schon in Sibirien für uns alle in die Hose gehen können. Nur ... Dann wäre ich überhaupt nicht in diese Lage geraten.

Der Moment verging. Die Gegend und diesmal auch das Jahrzehnt wechselten ein weiteres Mal. Edinburgh, Jahre zuvor. Ein anderes Leben. Dort, wo Shaw seine Jugend verbracht hatte, galt eine Pistole als ultimatives Statussymbol. Das Gangmitglied Simon trug alle möglichen Arten von Waffen, darunter scharfe Revolver. Ein Freund hatte ihm an einem Abwasserkanal außerhalb von Craigmillar das Schießen beigebracht und er hatte es für sich perfektioniert. Antrainiertes Verhalten. Nützlich. Damals wie heute. Trotz Doktortitel und Lehrstuhl. Es war offenkundig wie Radfahren, man verlernte es nie.

Ein Blick auf eine Uhr, die über dem Eingang zur Küche angebracht war, sagte ihm, dass es Zeit für seinen Termin war. Er nahm sein Ale und mit wenigen Schritten durchquerte er das gut besetzte Lokal.

Im Pub hatte sich ein Querschnitt der Bewohner Edinburghs eingefunden. Typisches After-Work Publikum. Studenten, Angestellte. Dazu kamen einige Touristen mit riesigen Rucksäcken, die das obligatorische Pint Lager tranken. Paare, die sich zum Dinner verabredet hatten. Auf der winzigen Bühne im hinteren Teil des Pubs baute ein Musiker seine Anlage auf. Drei langhaarige Typen mit Pferdeschwanz und schwarzen Lederkombis fielen Shaw auf. Schwarze Helme und kleine, ebenfalls schwarze Tankrucksäcke lagen unter und neben ihren Stühlen. Euch behalte ich im Auge. Wieder tastete er nach dem Revolver im Sakko.

Er steuerte einen Tisch vor einem der großen Pubfenster an.

»Mister Denborough«, begrüßte Shaw den Mann, der zuvor an dem Tisch Platz genommen hatte.

»Professor Shaw«, entgegnete dieser leise. Der in braunem Tweed gekleidete Herr lugte hinter einer riesigen Menükarte aus laminiertem Karton hervor und wirkte offenkundig beunruhigt. Das lag unzweifelhaft auch an Shaws ramponierter Erscheinung. Er vermutete aber noch einen anderen Grund.

»Sie trinken nichts?«, fragte der Professor sein Gegenüber, während er versuchte, sich nicht direkt von der Lampe, die über dem Tisch hing, anstrahlen zu lassen. Kurzerhand drehte er die Birne aus der Fassung.

»Nein«, antwortete Denborough knapp. Dabei betrachtete er den Professor eingehend und ohne seine Abscheu zu verbergen.

Shaw fühlte sich durchschaut, und die ohnehin geringe Zuversicht versank in Edinburghs dunkler, alter Kanalisation.

Da geht sie hin, die Hoffnung. Er weiß Bescheid. Und, er wurde, von wem auch immer, gebrieft.

Shaw hätte den kümmerlichen Rest seines Vermögens darauf verwettet, dass der einflussreiche Herausgeber wissenschaftlicher Richtlinientexte unter Druck gesetzt und manipuliert wurde. Aber wieso hatte der Mann dann überhaupt den Termin bestätigt? Pure Neugier? Durchaus möglich bei einem ehemaligen Wissenschaftsreporter.

Gab es einen anderen Grund?

Sollte er Informationen beschaffen?

War Denborough nur ein Lockvogel?

Ich finde es vermutlich bald heraus.

Beschissene Aussichten, doch der Mann ihm gegenüber war Shaws berühmter letzter Strohhalm. Es half alles nichts. Würde er gehört werden wollen, musste er da jetzt durch.

»Mister Denborough«, begann er. »Erst einmal vielen Dank für Ihre Bereitschaft, sich hier mit mir zu treffen.«

Vielleicht hatte er sich ja geirrt und vor ihm saß nur ein arroganter Journalist, der total gierig auf eine Story war, es aber nicht zugab. Shaw schaltete in den Verkäufermodus, für den ihn seine Studenten verehrten, seine Chefs liebten, seine Sponsoren hassten und seine Konkurrenten verachteten.

Er entschied sich dafür, die Karten vollständig auf den Tisch zu legen.

»Mister Denborough, was halten Sie von wissenschaftlichen Sensationen?«

»Kommt drauf an, wie seriös die Quellen sind. Sie verstehen, was ich meine. Fake-News kann jeder. Sensation ist ein großes Wort. Ich werde täglich damit konfrontiert und meistens sind es Marktschreier, Scharlatane, die diese Bezeichnung inflationär benutzen. Wir aber sind ein Begriff für Seriosität, wie Sie wissen dürften.«

»Deswegen habe ich mich an Sie gewandt.«

»Was Sie nicht sagen.«

Shaw verzog keine Miene. »Ich bin auf etwas gestoßen, dass eine Sensation sein könnte. Ich muss es noch endgültig verifizieren, aber bin mir schon jetzt zu fast einhundert Prozent sicher, dass alle Co-Analysen meine These bestätigen werden.«

Denborough schob einen Ärmel seines Tweedsakkos zurück. Ein goldener Manschettenknopf mit Initialen wurde sichtbar. Und eine Uhr. Der Chef der mächtigsten Wissenschaftszeitung Großbritanniens schaute demonstrativ auf seine Fossil.

»Aber wenn ich mich nicht irre, sind Sie bereits im Besitz einiger Informationen oder Gerüchte. Liege ich da richtig?«

Es war ein plumper Köder. Shaw wusste das und suchte daher vergeblich nach einem Hinweis, dass Denborough ihn schluckte. Der Verleger zeigte keine Reaktion.

Für Shaw ging es in diesem Gespräch nicht nur um die Veröffentlichung und Anerkennung der Entdeckung. Es drehte sich nicht nur um seine wissenschaftliche Reputation, um sein berufliches Überleben. Freiwillig hätte er sich nie in die Fänge eines Medienhaies begeben. Vielmehr musste er herausfinden, wie viel die Gegenseite wusste, wie viel war wirklich bekannt geworden über den Fund und dessen Eigenschaften? Gab es Verknüpfungen, die ihm gefährlicher werden konnten, als es ohnehin im Augenblick der Fall war? Noch kannte er die Identität seiner Gegner nicht. Nur die Brutalität von deren Infanterie.

»Ich biete Ihnen heute die wissenschaftlich evaluierten Beweise dazu. Beweise, welche die Echtheit eines Fundes bestätigen, der Historie und Zukunft der Menschheit entscheidend verändern kann und wird.«

Denborough zeigte weiterhin keinerlei Reaktion.

Shaw redete trotzdem weiter.

»Ich spreche von einem Fund ...« Er ging aufs Ganze. »Eigentlich spreche ich von einer Probe, einem Bohrkern.«

»Sie sind Archäologe. Was Sie nicht sagen!«

Shaw ließ sich nicht beirren. »Eine archäologische, bitte verzeihen Sie den Ausdruck, Sensation von außerordentlicher Bedeutung. Eine echte Revolution, die unser gesamtes Weltbild erschüttern wird.« - Was wohl das eigentliche Problem darstellte.

Denborough schnaubte und versteckte sich weiter hinter der Speisekarte.

»Mister Denborough. Ich bitte Sie. Vergessen wir im Dienste der Wissenschaft und im Interesse der Menschheit mal persönliche Animositäten. Ich weiß genau, Sie sind ein Mann, der keine Angst vor engstirnigen, konservativen Positionen hat. Sie sind ein Mann des Fortschritts. Mein Team und ich, wir bieten Ihnen die Chance, echte Geschichte zu schreiben. Unser aller Wohl hängt von Ihrer Entscheidung ab. Treffen Sie die richtige Wahl! Man wird sich an Sie und Ihre Publikationen erinnern. An George Denborough. Einen progressiven Menschen, der mit dazu beigetragen hat, die Menschheit zu retten.«

Denborough schien einen Augenblick zu zögern. Shaw erkannte die winzige Chance auf einen doch noch geschluckten Köder und spielte seinen letzten verbliebenen Trumpf: »Ich biete Ihnen die Exklusivrechte an. Für sämtliche medialen Sparten, die Sie vertreten.«

Denborough Gesicht tauchte hinter der Karte auf. »Doktor Shaw. Danke, Ihr großzügiges Angebot ehrt mich.« Mit einer Serviette tupfte er sich imaginären Schweiß von der Oberlippe.

Shaw fiel auf, dass er auf die Anrede »Professor« verzichtet hatte.

»Mister Shaw« Der Journalist negierte jetzt sogar den Doktortitel. »Sie haben natürlich recht. Für gewöhnlich bin ich bestens informiert. Ich kenne Sie gut und verfolge Ihren Werdegang mit großem Interesse. Nicht jeder neue Stern am Firmament der Forschung kreiert gleich eine neue Disziplin. Molekulararchäologie - sowohl der Name, als auch Eckpunkte und Definition stammen von Ihnen. Sie sind – waren – in jeder Beziehung beeindruckend. Besonders, da Sie mit Ihrer Frau eine ebenso geniale Technikerin an Ihrer Seite hatten. Wenn ich mich nicht irre, erschuf sie erst die technischen Voraussetzungen für die Molekulararchäologie. Nun, wie geht es Ihrer Frau eigentlich? Ich habe gehört, sie arbeitet jetzt in London und nicht mehr mit Ihnen zusammen?«

Shaw spürte, wie Bitterkeit und Wut in ihm aufstiegen. Isla war der wunde Punkt in seinem Leben, seine größte Niederlage. Nun stand er offenkundig vor einer weiteren.

»Entschuldigen Sie bitte, wie unhöflich von mir. Sie hatten sich scheiden lassen.«

»Nein, wir sind noch verheiratet.«

»Na, das freut mich für Sie.« Denborough griente.

Shaw unterdrückte den Impuls, seinen Revolver auf den Tisch zu legen.

Denborough kannte keine Gnade. »Aber kommen wir zu Ihrem Anliegen. Falls es stimmt, was die Akademikerspatzen alles so von den Dächern der Universitäten pfeifen, steht aus Sicht von Science-Press Ltd. deutlich mehr auf dem Spiel als nur Ihre Reputation. Ich und meine Zeitung könnten ebenfalls erheblichen Schaden davontragen.«
»Kommen Sie, Mann! Sie sind Journalist!«, rief Shaw ärgerlich.
Denborough unterbrach ihn. Speckige Finger fuchtelten vor Shaws Nase in der Luft herum. »Genau, Shaw. Sie haben es erfasst. Ich bin Journalist. Und was bitte sind Sie?« Denborough deutete demonstrativ auf Shaw. »Schauen Sie einfach mal in den Spiegel. Sie sehen aus wie der letzte Penner, wie ein, wie ein ...«, Denborough suchte den passenden Begriff. »Wie ein Preisboxer und nicht wie ein ehemals angesehenes Mitglied der Universität von Edinburgh!«

Shaw versuchte, Professionalität zu wahren, was nicht vollends gelang. »Nicht meine Schuld«, sagte er knapp.

Denborough ließ sich nicht bremsen. »Was ist denn überhaupt mit Ihrem, äh, Zinken passiert?«

»Auch nicht meine Schuld«, knurrte Shaw und dazu dachte er: Du weißt vermutlich, wessen Schuld es war, George.

»Auf mich wirken Sie wie einer dieser hässlichen Hooligans von den Rangers oder Celtic, und mit Hooligans mache ich keine Geschäfte.«

Shaw verspürte den Drang, Denborough die Nase zu brechen, damit sie danach wirklich auf Augenhöhe diskutieren konnten. Aber er widersprach nicht. Stattdessen griff er nach seinem Bierglas, wie nach einem Rettungsring.

Das war‘s also.

Shaws Wut verwandelte sich in Resignation, aber Denborough war noch nicht fertig. »Ohne auf die Universität, Ihr Team oder auf Ihre Gönner Rücksicht zu nehmen, zerschlagen Sie eine immense Menge Porzellan. Shaw, Sie legen sich mit extrem gefährlichen und einflussreichen Leuten an.«

Denborough wusste etwas. Das war der Beweis. Shaw sah eine Chance gekommen. Spät, kaum der Rede wert, aber unzweifelhaft eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen durfte. Vielleicht nahm das hier noch eine Wendung zum Guten.

»Mister Denborough. Sir. Von wem sprechen Sie? Wessen Porzellan habe ich zerschlagen? Wer sind diese Leute?«

»Ach, Professor. Hören Sie auf. Als wenn Sie das nicht wissen würden? Es sind Ihre ...«

Die Scheibe stürzte in sich zusammen.

Denboroughs Kopf schlug auf dem Tisch auf.

Shaws Glas rollte über die Tischkante und fiel zu Boden. Er selbst fand sich gleichzeitig mit dem Bierglas auf dem dunkelbraunen Holzdielenboden des Pubs wieder. Hastig robbte er in den - hoffentlich – toten Winkel unterhalb des zerstörten Fensters.

Manche Gäste saßen einfach nur da und stierten auf Denboroughs Leichnam. Andere begriffen die Situation schneller. Sie warfen sich ebenso wie Shaw flach auf den Boden. Im gesamten Pub verebbten die Gespräche. Eine unnatürliche Stille trat an die Stelle heiterer Pubatmosphäre. Niemand schrie oder reagierte panisch. Die Menschen wirkten wie paralysiert.

Shaw lag auf einem Teppich aus Glasscherben. Unter ihm knirschte es. Scherben schnitten in seine Kleidung. Trotzdem drückte er sich platt an einen gemauerten Absatz unterhalb des Fensters. Vor seinen Augen war gerade jemand erschossen worden. Er schmeckte bittere Galle und sein Herz trommelte irgendeinen Song von Metallica.

Denk nach. Kotzen kannst du später, warnte ihn eine Stimme, die aus dunklen Zeiten zu ihm zu sprechen schien. Hatten sie es auch auf ihn abgesehen? Die Frage war eindeutig dämlich und ließ sich ebenso eindeutig mit »Ja« beantworten. Ein einziger Fehler und er würde kostenfrei eine neue Körperöffnung erhalten, die er so gar nicht gebrauchen konnte. Dass er nicht in einer Blutlache auf dem Boden lag, schuldete er vermutlich der Sitzordnung und einer schnellen, vor langer Zeit antrainierten Reaktion.

Ein perfekter Schuss – also ein Profi.

Wie komm ich hier lebend raus?

Im Hinterkopf tauchte wieder die Frage nach den Auftraggebern des Attentats auf. Aber Shaw verdrängte den Gedanken und ließ das Stammhirn die Planungen für die Flucht übernehmen.

Optionen?

Das beste Ziel würde er draußen auf der Straße vor dem Pub abgeben.

Vor seinem geistigen Auge erschienen Küchentür und Hinterausgang. Aber auch ein zweiter Scharfschütze auf der Rückseite des Pubs ... Ein kaum kalkulierbares Risiko, leider alternativlos.

Wir müssen uns beeilen. Falls die Schützen auf die Idee kommen, den Pub zu betreten, gibt es ein Blutbad.

»Raus hier!«, brüllte er, so laut wie möglich. »Hinter die Theke! Küche! Hinterausgang! Nicht vorne raus!«

Die meisten Gäste krabbelten inzwischen planlos kreuz und quer über Scherben, Blut, Bier und auf dem Boden liegende Speisen. Die Menschen suchten Schutz, aber niemand versuchte, zum Vorderausgang zu fliehen. Wenigstens etwas.

Er probierte es ein weiteres Mal: »Zur Küche! Die Küche hat einen Hinterausgang!«

Wieder blieb eine Reaktion aus. Shaw verstand das Verhalten der Leute nicht. Mit jeder Minute, die im Pub verstrich, stieg die Wahrscheinlichkeit ungebetenen Besuchs. Nur offensichtlich wussten die Gäste nichts von seinen Überlegungen. Er hatte nicht vor, sich oder einen der Anwesenden, die Sekunden zuvor fröhlich lärmend vor ihrem Bier gesessen hatten, erschießen zu lassen. Ungebetener Besuch bedeutete zwangsläufig einen Schusswechsel sowie Tote und Verletzte.

Seitdem er zu Boden gegangen war, lag der Revolver entsichert und schussbereit in Shaws Hand. Er hatte es gewusst: Die Mechanismen von früher funktionierten auch zwanzig Jahre später einwandfrei. Wie Radfahren eben.

Shaw schoss zweimal in die Decke. Seine Ohren fingen sofort an zu pfeifen. Tinnitus, ich heiße dich willkommen, aber der Zweck heiligt die Mittel.

»In die Küche, nicht auf die Straße!«, wiederholte er laut brüllend. »Das waren Terroristen und die sind auf dem Weg hierher! Los, raus hier!«

Wie die Menschen doch konditioniert sind. »Terroristen« hat noch jeden zum Rennen gebracht. Erleichtert beobachtete Shaw, wie endlich Bewegung in die Menge kam. Die ersten Gäste rannten und sprangen hinter den Tresen.

Jetzt musste es schnell gehen. Vielleicht ein bisschen zu schnell für seinen Geschmack. Von einer Kugel in den Rücken oder Hinterkopf getroffen zu werden, das entsprach nicht seinem Ideal von einem schönen Tod, falls es so etwas überhaupt gab. Dumm nur, dass ihm keine Wahl blieb. In Erwartung einer – seiner – Kugel, stieß er sich ohne zu zögern mit beiden Beinen von der Wand ab, rutschte ein kurzes Stück über den dunklen Schiffsdielenboden, drehte sich auf die Seite und drückte sich wie ein Schlittschuhläufer über die Hüfte ab. Die Geschwindigkeit half ihm, in einer ansatzlosen Bewegung auf die Füße zu kommen. Was folgte, war der Sprint seines Lebens. Vor der Theke tauchte er schlitternd und tief geduckt in der Menge der in die Küche flüchtenden Menschen unter.

»Zu mir! Hierher! Zum Hinterausgang.« Shaw griff nach einer jungen Frau, die ihrem Freund, allen Warnungen zum Trotz, in Richtung Vorderausgang folgte. Shaw zog sie zu sich heran. Er wiederholte seine Ansage. »Durch die Küche und dann hinten raus. Vorne ist es zu gefährlich.«

Jetzt kam auch ihr Freund und zu dritt erreichten sie die Küche. Der jungen Frau liefen Tränen übers Gesicht.

»Haut ab!«, rief er den beiden zu, die sich daraufhin ihren Weg durch das Chaos in der Küche bahnten.

Erleichtert sah Shaw, dass der Hinterausgang geöffnet war. Das Küchenpersonal war wohl als erstes geflohen.

Die Gäste strömten durch enge Gänge zwischen Öfen und Gasherden. Überall fielen Töpfe und Geschirr auf weiße Fliesen. Ein Mann verbrannte sich die Hand an einer Pfanne und fluchte wie ein schottischer Bierkutscher. In der Nähe des Ausgangs rutschten einige Frauen auf der Soup of the Day aus, die den gesamten Boden bedeckte. Die Typen in ihren Lederkombis halfen ihnen wieder hoch.

So konnte man sich irren.

Es roch nach Gas und der Inhalt einer Fritteuse qualmte bedenklich. Shaw nahm von alledem kaum Notiz. Er hatte es auf etwas anderes abgesehen: Eine traditionelle Kochmütze und eine Schürze, die auf einer Edelstahlanrichte lagen. Hastig warf er sich die Schürze über. Im zweiten Anlauf schaffte er es schließlich, die Mütze aufzusetzen. Gemeinsam mit den übrigen Besuchern polterte er aus der Küche in den dunklen Hinterhof des Pubs.

Dann hörte er einen Schuss. Die Hölle brach los.

*