AAndreas Prodehl - Autor von Fossil, Lumpenball, Neckarstadt Sinfonie | Leseprobe: Der Lumpenball

Leseprobe: Der Lumpenball

1948

Draußen regnete es Bindfäden. Während ich einigermaßen verzweifelt aus dem Fenster unserer Wohnküche schaute, lag vor mir auf dem Esstisch eine knifflige Aufgabe, an der ich ebenso verzweifelte wie an dem katastrophalen Wetter, das soeben Mannheim in eine Kloake aus Schlamm verwandelte. Einen Fußball aus Stofffetzen zu wickeln, war eines der vielen Dinge, die mir mein Opa im Laufe der letzten Jahre beigebracht hatte. Mein Vater konnte mir leider kaum etwas beibringen, er musste uns schließlich ernähren. Aus diesem Grund klopfte er die gesamte Woche über in der Stadt Steine, während Opa mit mir gemeinsam die Geheimnisse der Welt lüftete. Eine Sache, die eigentlich Papa hätte erledigen sollen. Ich liebte Opa abgöttisch dafür, aber meine Liebe wäre nicht gerin- ger gewesen, hätte Papa ein bisschen mehr Zeit mit mir verbringen können.

Anfangs arbeitete ich sehr gewissenhaft an der Ansammlung Fetzen, die einmal ein Ball werden sollte. Trotz, oder gerade wegen der hohen Wahrscheinlichkeit, dass die Kugel das kommende hochbrisante Fußballspiel gegen die Mannschaft aus der Geibelstraße nicht über- leben würde. Und mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit würde der Großteil unserer blutjungen Elf dem Ball in die ewigen Jagdgründe folgen. Aber der Reihe nach.

Die »Klicker-Kicker« nannten wir uns. Eine Bande fußballbegeisterter Jungs, die allesamt aus der direkten Umgebung des Clignetplatzes – bekannt als Klicker – in der Mannheimer Neckarstadt Ost stammten. Ich galt als Mannschaftskapitän, und meine Kameraden riefen mich ohne Ausnahme »Duftl«.

Wir standen vor dem wichtigsten, wenn auch gefähr- lichsten Spiel einer taufrischen Straßenkicker-Karriere. Die »Klicker-Kicker« begehrten Einlass in die inoffizielle Straßenliga der Mannheimer Stadtteile. Besser ausge- drückt, in die Neckarstädter Abteilung der Liga. Vorher gab es eine gewaltige Hürde zu überwinden: das Match gegen den Champion aller Straßenmannschaften, den Gei- belsträßlern. Ein Kampf, der gewonnen werden musste, um am Spielbetrieb teilnehmen zu können. Als Spielort war ein ausgebombtes Grundstück in einer Nachbarstraße vereinbart worden – sozusagen neutraler Boden. Die Ver- handlungen hatten sich über Wochen hingezogen. Aus Furcht vor Repressalien wollten wir partout vermeiden, beim Gegner daheim auf dem Hof der Uhlandschule zu spielen.

Die gesamte Liga fürchtete das Team aus der Geibel- straße. Zum einen standen sie seit Einführung der Liga an der Tabellenspitze und zum anderen an der Spitze der
Hierarchie der Straßenmannschaften. Beide Plätze erlang- ten sie nicht unbedingt durch spielerische Klasse oder auf Grund taktischer Intelligenz. Es lag eher an ihren Mög- lichkeiten im körperlichen Bereich. Die Baraber aus der Geiwelschtroß, wie sie auch genannt wurden, besaßen in dieser Hinsicht einzigartige physische Vorteile. Gepaart mit einer »Schladadadeschädeloiwonndnetspursch« – Mentalität, hatten sie ihre Vormachtstellung beeindru- ckend einzementiert.

Es knisterte gewaltig. Bereits gestern im Training war deutlich geworden, dass ich nicht als Einziger mit einer gewissen Anspannung kämpfte. Zwei meiner Mitspieler – der lange Karl und der dicke Georg – stritten sich beinahe bis aufs Blut darum, wer Fritz Walter sein durfte und wer Otto Siffling. Der Spielführer zeichnete verantwortlich für die Übungen sowie den korrekten Ablauf der Einheiten. Ich musste die beiden unter Aufbietung meiner gesamten Autorität als Kapitän davon abhalten, handgreiflich zu werden.

Wir kannten die Namen der Kicker, die vor dem zwei- ten Weltkrieg für die großen Vereine oder für Deutschland spielten. Nach dem Krieg gab es kaum Bildmaterial, das unsere Idole zeigte. Die Schlagzeilen der wenigen Pos- tillen gehörten der Politik, der Staatsgründung und der Jagd auf Nazis. Fußballspiele? Wurden – wenn überhaupt – im Radio übertragen. Informationen leitete man per Stra-
ßenfunk weiter, und viel zu häufig handelte es sich hierbei um Erfindungen oder reinen Blödsinn. Eine echte Heraus- forderung. Oft genug fielen die Menschen auf Falschmel- dungen herein.

»Männer! Siffling und Walter spielten beide nicht auf euren Positionen. Außerdem sind sie blond«, log ich schamlos. »Also kriegt euch wieder ein und hört auf, Fisimatenten zu produzieren, sonst könnt ihr morgen zuhause bleiben.«

»Die sind nicht blond, Duftl!«, antwortete der dicke Georg.

»Beweise«, forderte ich.

»Mein Vater kennt beide.«

»Ja, klar, und meine Oma war an der Ostfront«, gab ich zurück. »Solang du mir kein Foto bringst, sind die blond. Und jetzt auf deine Position, sonst ...« Ich ließ den Rest der Drohung offen. Mir fehlte die Handhabe, zudem benötigten wir »Siffling« und »Walter« unbedingt für das Spiel.

Beim Training gestern hatte die Sonne noch mit aller Kraft geschienen, daher kam der Regen heute völlig über- raschend. Der Sommer 1948 war eine Art Wundertüte. Auf die Wettervorhersagen aus dem Radio konnte man sich ebenso verlassen wie auf Bauernregeln von der Sorte »Scheint die Sonne auf den Mist, bleibt das Wetter, wie es ist!«

Das Sauwetter passte hervorragend zu meiner Stim- mung. Das Gebilde vor mir hatte inzwischen die Form einer Bettwurst angenommen. Kein Wunder bei dem Berg an Problemen, der sich vor mir auftürmte. Wer bitte konnte sich da schon konzentrieren? »Ausgerechnet heute ...«, motzte ich leise, dafür ununterbrochen. »Ausgerech- net heute kriegt der Opa ‘ne Grippe. Kann der nicht an einem anderen Tag krank werden?«

»Was brabbelst du, Walter?«, fragte mich meine Mutter, die ich ganz vergessen hatte.

Ich saß am Küchentisch in unserer Wohnung in der Neckarstadt. Einer für damalige Verhältnisse geräumigen Unterkunft, mit separatem Elternschlafzimmer, das mir abends manchmal so etwas wie Privatsphäre ermöglichte. Aber leider nicht tagsüber, wenn ich die Küche mit der Mutter teilen musste.

Erschrocken antwortete ich: »Ach, nix, Mama, ich führe nur Selbstgespräche. Das Alter. Du weißt.«

Sie lachte und wischte sich die Hände an der blauen Kittelschürze ab, die sie immer beim Kochen trug. »Was machst du da eigentlich?«, sie deutete auf die Wurst vor mir.

Verlegen starrte ich auf den Tisch. »Äh, das wird ein Ball - vermutlich.«

»Ah, ihr habt ein Spiel. Hab ich gar nicht mitbekom- men. Gegen wen geht‘s denn?«

»Gblstrse«, nuschelte ich leise. Mir stieg das Blut zu Kopf. Was jetzt mit Höchstgeschwindigkeit auf mich zu rauschte, war unvermeidlich.

»Wie bitte? Sprich deutlich und achte auf deine Aus- sprache, mein Sohn. Du weißt, ich mag diesen Dialekt nicht sonderlich.«

Die Schlinge zog sich zu. Aber lügen kam nicht in Frage. Also antwortete ich wahrheitsgemäß, mit der Gewissheit eines heranfliegenden Donnerwetters, laut und klar vernehmlich: »Geibelstraße.«

»Aha! Daher weht der Wind. Opa sollte den Schiri spielen. Natürlich, ohne mir Bescheid zu geben. Na, der bekommt was zu hören. Du schlägst dir das gleich aus dem Kopf, gegen die spielst du nicht. Die schlimmsten Rabauken und Ganoven im ganzen Viertel.« Sie machte eine kleine Kunstpause. »Sag mal, sind die außerdem nicht schon viel älter als die Kinder aus eurer Mannschaft?«

Woher in aller Welt hatte Mama diese Informationen? »Ja, schon«, gab ich zähneknirschend zu. »Aber, Mama ...«

»Keine Widerrede, sonst diskutieren wir das mit deinem Vater«, unterbrach sie mich unwirsch. »Gegen die Geibelstraße und das auch noch ohne Aufsicht. Auf gar keinen Fall! Opa ist krank. Somit fällt das Spiel aus. Tut mir leid.« Sie stützte sich schwer auf der Anrichte ab. Es würde der bekannte Ablauf folgen: Jammern über Löcher
in den Hosen, kaputte Schuhe und blutige Knie. Die vielen unbezahlten Rechnungen. Der miese Lohn von Vater. Am Ende der Aufzählung wartete in der Regel Hausarrest.

Ich entschied mich für einen taktischen Rückzug. Wenn meine Mutter mit Papa drohte, der schlecht gelaunt in der Stadt seiner öden Arbeit nachging, hieß es Land gewinnen, und zwar, bevor das Theater erst so richtig los- ging. So wie es aussah, dauerte es nicht mehr lange. In ihr schien es gewaltig zu brodeln. Dass es keine Rübensuppe war, konnte ich an den pulsierenden Halsschlagadern besonders gut erkennen.

Eine Entscheidung musste her.

Raus hier.

Vorsichtig steckte ich die Lumpenwurst hinter den Hosenbund, peinlich darauf bedacht, dass meine Mutter es nicht bemerkte. Danach schaute ich demonstrativ auf die Uhr – noch zwei Stunden bis zum Spiel.

»Du hast ja Recht, Mama. Schon in Ordnung. Reg dich nicht auf. Das Spiel fällt aus«, sagte ich im unter- würfigsten Ton, zu dem ich in so einem Augenblick fähig war. »Ich geh hoch zu Opa und bring ihm Suppe.« Es folgte ein stilles Stoßgebet. Mama musste sich einfach wieder einkriegen. Immerhin ging es um ihren kranken Vater. Ich beobachtete ihren Rücken. Atmete sie schwer? Gab es Anzeichen für eine kommende Verpuffung und damit ein vorzeitiges Ende einer hoffnungsvollen Fuß-
ballerkarriere? Alles hing von diesem einen Spiel ab. Ich konnte mich begraben lassen, wenn ich das hier verbockte. Also ein weiterer Versuch: »Soll ich ihm auch Tee mitbrin- gen?« Unter dem Tisch verkrampften sich meine Zehen in den Schuhen.

»Ist es schon soweit?«, gab sie zurück, während sie einen Teller aus dem Hängeschrank über dem Spülstein zog. Sie drehte sich immer noch nicht um, aber sie hatte immerhin geantwortet.

»Ja, es ist gleich ein Uhr.«

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«

»Es sind Ferien, Mama.«

»Ach so.« Dann, endlich, drehte sie sich um.

Kein Anzeichen einer Explosion.

Sie reichte einen Teller mit dampfender Rübensuppe
über den Tisch. Mir fiel eine große Ladung Felsbrocken vom Herzen. Jetzt galt es, die Gunst der Stunde zu nutzen.

»Darf ich auch einen haben?«, bat ich vorsichtig, ein wenig leidend. Sollte der Plan klappen und wollte ich beim Spiel nachher meine beste Leistung abrufen, wäre eine ordentliche Portion von großem Vorteil.

»Isst Du bei Opa?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Achtung, die Gefahr ist nicht vorbei. »Klar.«

Es entstand eine kurze Pause, in der ich viel zu genau beobachten konnte, wie etwas in ihr arbeitete.
»Gut, darüber freut er sich bestimmt. Bitte sag ihm, dass er nachher noch einen Tee bekommt.«

Ich entließ einen ganzen Hektoliter Pressluft aus meinen Lungen ins Freie. »Klar wie Kloßbrühe.« Ich schnappte den zweiten Teller und balancierte vorsichtig über die Treppe einen Stock höher, wo Opa wohnte. Natürlich streng darauf bedacht, die Hose abzudecken. Wenn sie die gewaltige Beule hinterm Reißverschluss bemerkte, könnte ich einpacken, aber das Glück blieb mir hold.

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