Andreas Prodehl - Autor von Fossil, Lumpenball, Neckarstadt Sinfonie | Leseprobe: Neckarstadt Sinfonie

Leseprobe: Neckarstadt Sinfonie

Das Herzogenriedbad

Es stank sogar im Zimmer nach Mannheim.

Als ich am nächsten Morgen naserümpfend aufwachte, stellte ich meiner Mutter die einzig logische Frage: »Du Mami, darf ich ins Schwimmbad gehen?«

Sie überlegte einen sehr kurzen Augenblick und entschied, der Bitte eiligst nachzukommen. Verhieß dies doch einen Tag, an dem sie arbeiten konnte, ohne sich ständig um ihren Sprössling kümmern zu müssen. Dass ich, auf mich alleine gestellt, Gefahr liefe abzusaufen, bereitete ihr angesichts einer gewissen biologischen Nähe zur Bisamratte keine Sorgen.

Ich verließ das neue Heim nur allzu gerne und gleich nach dem Frühstück. Die Vorfreude auf den verheißungsvollen Tag ließ mich die erste und wichtigste Mahlzeit für einen Feger meines Kalibers mit Mami und Jan nur schwer ertragen, obwohl ich zugeben musste, dass die Frühstücksbrötchen beeindruckend gut schmeckten. »Bäckerei Erich Schmidt« stand auf der Papiertüte mit roter Schrift und blau unterstrichen.

Unterwegs kam ich nach fünfzig Metern Fußmarsch unter anderem an besagter Bäckerei Schmidt vorbei. Das Ladengeschäft befand sich in einem Eckhaus gegenüber des Clignetplatzes. Ein paar Schritte die Kleiststraße entlang, wehte mir zum ersten Mal ein wunderbarer Geruch von frischgebackenen Brötchen und Brot entgegen. Im Sommer buk man bei offenem Fenster, damit alle etwas davon hatten. Tolle Marketingstrategie. Mir fiel auf, dass ich nicht als Einziger schnupperte.

Ich überquerte die Lange-Rötter-Straße, lief durch die Melchiorstraße, kreuzte die Carl-Benz-Straße und gelangte nach einer knappen Viertelstunde ans Ziel. Das Herzogenriedbad lag vor mir. Ich bezahlte eine Mark Eintritt und betrat das Schwimmbad, damals wie heute ein typischer Vertreter seiner Zunft.

1976 bestand der Eingangsbereich aus einem weißen Flachbau; es gab Drehtüren, zwei Kassenhäuschen, alle Metallteile waren blau gestrichen und der reichlich vorhandene Beton stand in hartem Kontrast zu den verwendeten Farben. Michelangelo hätte seine wahre Freude gehabt.

Kaum ließ ich die Kasse hinter mir, schlug mir das Aroma der großen, weiten Schwimmbadwelt entgegen: Chlor, feuchte Badekleidung und Urinstein. Ich sog den Duft tief ein. Genau diese Kombination aus Geruch und Optik löste bei mir instinktiv, wie bei Pawlows Hund, eine Reiz-Reaktion aus, die mich geradezu ins Innere des Bades trieb, direkt und ohne Umweg auf die Sprunganlage zu. Dort angelangt, suchte ich hektisch einen Platz auf der Tribüne am Beckenrand.

Während ich mir die Klamotten vom Leib riss, natürlich hatte ich meine Badehose bereits zuhause angezogen, nutzte ich die Gelegenheit, Sprungbecken und Sprungturm genau zu inspizieren. Es besaß, im Vergleich zum Viernheimer Waldschwimmbad, gigantische Ausmaße. Quadratisch und unglaublich tief. Und alles für mich ganz alleine.

Im Juli darbten die Schüler aus Baden Württenberg noch beim Pauken. Ich blieb auf Grund mütterlicher Weisung bis auf Weiteres in Hessen in der Schule, genoss bereits die Sommerferien und freute mich in diesem prachtvollen Augenblick über ein wunderbar leeres Schwimmbad. Das Wasser lag klar und glatt gestrichen da: ein durchsichtiger Wackelpudding in der Schüssel.

Ich sah aus der leicht erhöhten Tribünenperspektive deutlich schwarze Flecken auf dem Grund, die von abgeblätterter Farbe oder von versunkenen Gegenständen zeugten. Das Becken grenzte in Richtung Norden an das Schwimmerbecken, getrennt durch einen breiten Steg, auf dem sich die grauen Betonstartblöcke befanden. Am Südende wuchs der riesige Sprungturm empor, dessen langer Schatten mich soeben erreichte. So hoch, dass er die Morgensonne verdunkelte. Ich kam mir vor wie die kleine, weiße Frau bei ihrer ersten Begegnung mit King Kong. Nicht dass ich den Film je hätte sehen dürfen!

Das Ungetüm bestand unten aus einem »Steineinser« und einem »Steindreier«, wie wir die Betonflächen in den kommenden Jahren nannten. Links und rechts am Turm angebracht identifizierte ich die Fünf- und die Sieben-Meter-Fünfzig-Plattformen. Wie ich später am Tag leidvoll erfahren sollte, zog sich ein Riss quer durch den Beton der Sieben-Meter-Fünfzig-Plattform. Über allem thronte majestätisch, aber auch unheimlich, der »Zehner«, der den Wolkenkratzer oben abschloss. Ich zitterte vor Aufregung und konnte es nicht abwarten, endlich den Turm zu erobern.

Ich glaube nicht, dass ich die Klamotten ordentlich auf den Platz legte. Ich vergrub den Haufen blitzschnell unter einem Handtuch und stürmte sofort den Sprungturm. Im Gegensatz zum Waldschwimmbad in Viernheim, stand die Fünfmeterplattform den ganzen Tag zur Verfügung der Springer, also mir.

Ich sprang nach Herzenslust und so oft ich wollte in allen Varianten, die ich damals zu meinem Repertoire zählte. Es machte einen Heidenspaß und ich bekam nicht genug vom Hoch und Runter. Zumal ich mit elf, zwölf Jahren keinerlei Pausen zum Verschnaufen benötigte.

Aber wie das so ist mit dem Spaß, wenn man als Kind Dinge exklusiv sein Eigen nennt, fängt selbst das tollste Spiel irgendwann an, zu langweilen. Man strebt nach neuen Herausforderungen, und ich ließ mich gerne herausfordern oder besser gesagt provozieren. Eine dieser Provokationen lag ein Stockwerk über mir und durch ein Verbotsschild, auf dem »Gesperrt« stand, außerhalb meiner kindlichen Reichweite. Ich mochte zwar keine Regeln, aber ich wusste, dass ich das Schild keinesfalls ignorieren sollte, wollte ich den großen, braun gebrannten, dunkelhaarigen Typ, der sich in weißer Montur am Beckenrand postierte, nicht verärgern. Wie ich später am Tag erfuhr, hieß der Bademeister Nabo und stellte eine absolute Respektsperson dar. Sogar für mich.

Und so nahm das Unglück seinen Lauf. Hoch motiviert ging ich zu ihm und fragte völlig unschuldig und vor allen Dingen unwissend: »Entschuldigung, ich habe eine Frage«, sprach ich ihn in perfektem Hochdeutsch an, auf das meine Eltern immer peinlich bedacht waren.

»Hä?«, fragte er grimmig, missmutig, die Hände in den Taschen versenkt.

»Dürfte ich bitte einmal von dem Sieben-Meter-fünfzig-Turm springen?«, wollte ich hoffnungsfroh wissen, gespannt und auf das große Charmepotential brauner Knopfaugen vertrauend.

»Hea, willsch misch verarsche oder was?« Das kam noch ein wenig grimmiger und missmutiger.

»Wie bitte?« Ich peilte so gar nix. Über die Sprachbarriere war ich mir durchaus bewusst. Ich verstand schon als Neuling in Viernheim nur ein bisschen mehr als nichts. Der hiesige Dialekt machte mir von Anfang an schwer zu schaffen. In Viernheim besaßen unsere Vermieter, die im Erdgeschoss wohnten, einen Dackel. Ich war mindestens ein Jahr lang der Meinung, der Hund höre auf den Namen »Geschroi«, bis mich mein Vater aufklärte, dass der Dackel Fiffi hieß. »Geschroi« übersetzte er mir schmunzelnd mit »Gehst du rein«. Aha.

»Ob du kläna Scheißa misch filme willsch?« Die Stirn legte sich jetzt sichtbar in Falten, allergrimmigst, allermissmutigst.

»Entschuldigung, natürlich, nein!« Panikattacke. »Ich dachte nur, weil hier nicht viel los ist, wäre es vielleicht möglich ...« Ich verstummte unter strengem Blick.

»Der siwwefuffzisch is kaputt«, kam die knappe Antwort.

»Das tut mir leid. Ich hab keine Ahnung. Wann wird er denn repariert?« Oh ja, ich war naiv und doof.

»Bisch du dappisch oder was? Bisch du de Scheff vum Bauomt? Mach de Zähna uff un loss mä moi Ruh. Depp. Um die Uhrzeit mach ich des normalerweis net, awwer ich hab hait moin gude Daag.«

Nachdem ich einige Zeit für die Übersetzung brauchte, eröffnete sich mir mit einem Schlag, welche Chance sich mir hier bot. Ich konnte, ich durfte, nein, ich musste vom »Zähna« also dem Zehnmeterturm springen. Das wollte ich mir natürlich auf gar keinen Fall entgehen lassen.

»Vielen Dank, Herr Bademeister«, rief ich freudig dem Mann in Weiß hinterher, der sich kopfschüttelnd abwandte und an den Beckenrand setzte, um mich bei meinem Vorhaben zu beaufsichtigen.

Gesagt getan, rannte ich wie »ään Depp« Richtung Sprungturm und kletterte mit einer Affengeschwindigkeit bis zum Fünfer empor und entfernte das »Gesperrt« Schild (die Provokation) von den Stufen zur nächsthöheren Plattform.

Ich erklomm die ersten beiden der kalten, blauen Metallstufen. Nach weiteren zwei Sprossen erreichte ich Augenhöhe mit der Betonplatte des »Sieben-Meter-fünfzig«. Der reichlich vorhandene Enthusiasmus verflog schlagartig und die Klettergeschwindigkeit verringerte sich gemeinsam mit meinem Mut rapide. Während ich überaus vorsichtig das Plateau betrat, wurde mir bewusst, dass es eventuell doch keine so geniale Idee war, direkt ohne Übung und Vorbereitung aus zehn Metern Höhe zu springen.

Ich ging langsam vor an den Rand und schaute aus sieben Metern fünfzig, plus der eigenen Größe von immerhin einem stattlichen Meter vierzig, hinunter auf die glatte Wasseroberfläche. Ich sah nur den Grund. Nicht eine Welle kräuselte das Wasser in der Tiefe vor mir. Ein wahrer Abgrund.

Vom Beckenrand schallte es zu mir: »Isch hab gsaht: Zähna. Mach dass nuff kummscht, verarsche kann isch misch allää. Wehe Du schpringschd«. Zu gerne hätte ich auf die Ansage gepfiffen aber so trat ich meinen Weg nach oben in die Hölle an.

Sowohl die Zehnmeter-Plattform als auch die Leiter befanden sich in der Mitte des Turms. Das bedeutete für mich, den jugendlichen Gipfelstürmer und kommenden Turmspringgott, dass ich auf den letzten Stufen, zuerst den Horizont und am Ende nichts als blauen Himmel sah. Das Ziel vor Augen, berührten meine weichen Knie die Plattform. Ich machte eine kurze Pause, bevor ich den inzwischen mit Übelkeit und Wahnvorstellungen streikenden Körper Zentimeter für Zentimeter weiter nach oben zwang. Ich verwandelte mich vom Gipfelstürmer zum Höhenangsthasen. Passend zum Gipfelfest tauchten die Dächer der Häuser im Herzogenried auf und vermittelten mir freundlicherweise das unangenehme Gefühl eines Flugzeugstarts ohne Flugzeug.

Als ich zuletzt mit zitternden Füßen auf dem kalten Beton stand und die Leiter endgültig hinter mir ließ, schob sich eine Wolke einem bösen Omen gleich vor die Sonne. Das Fehlen der aufmunternden Sonnenstrahlen raubte mir den letzten Funken Mut. Zu meinem kompletten Glück spürte ich, wie der Turm schwankte.

Das blaue Geländer fest umklammert, lief ich langsam und mit schlotternden Knien weiter voran. Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte, da ich keineswegs die Dächer sehen wollte und die Tiefe konnte mir sowieso gestohlen bleiben.

Unaufhaltsam kam der Abgrund Schritt für Schritt näher und irgendwann, einige Zeitalter, die noch keinen lateinischen Namen erhalten haben, später, stand ich endlich ganz vorne.

Unten am Beckenrand saß der winzige Bademeister und schaute zu mir hinauf. »Wehe, Du machsch misch nass«.

Witzbold! Den Einzigen, den ich jetzt gleich nass mach, bin ich selbst.

Eine weitere Ewigkeit verging in Zeitlupe während der ich vor mich hin starb. Dann, endlich, ließ ich das Geländer los und rutschte Zentimeter für Zentimeter bibbernd in die Mitte. Ich fixierte den Horizont. Bloß nicht runter schauen. Aus dem berühmten Kloß im Hals war ein Kürbis geworden. Trotzdem zählte ich laut: »Eins, zwei, drei«.

Die magischen Zahlen, deren unausweichliche Bedeutung jeder Springer ob Bungee, Fallschirm oder Turmspringer, kennt. Nach »drei« springt man - oder eben nicht.

Ich zählte weitere achtmal bis zehn, tat einen tiefen Seufzer, faltete meinen imaginären Schwanz ordentlich zusammen und steckte diesen, ebenfalls imaginär, in die Innentasche meiner imaginären Smokingjacke, die ich extra für den einen magischen Augenblick angezogen hatte. Ich entschied das erste Mal in meinem kurzen Springerleben zugunsten »oder eben nicht«.

Die Mutter aller Niederlagen landete einen harten, vernichtenden Treffer. Ich ließ den Kopf hängen und ging langsam zurück Richtung Leiter. Der kommende Olympiasieger trat geschlagen den Rückzug an. Die Schlacht war verloren. Und der Krieg ebenfalls.

Ist ein Krieg beendet, wartet auf die Verlierer der Henker. Ich kam nach einer Ewigkeit im Rückwärtsgang auf der Fünf-Meter-Plattform an, mehr als bereit, mich mit einem schönen Schraubensalto zu rehabilitieren. Voller Zuversicht, den sicher übelst angekratzten Ruf auf unnachahmliche Weise wieder herzustellen und den Bademeister nachhaltig von meinem Talent zu beeindrucken. Leider machte ich die Rechnung nicht mit Nabo.

Statt sanftem Verständnis für den ehrenhaften Rückzug vernahm ich: »Der Saftsack will misch verarschen, ich glab`s ja gar net. Wo simma donn hier? Was glabsch du eigentlich, mit was für ähm Idiot du`s zu tun hast? Isch hab mei koschtbare Zeit doch net gsschdohle. Wasnlos? Wonn duu mänscht jetzat vum fünfa schbringe zu däffe, hoscht disch awwer ganz gwaltisch in die digge Finga gschnidde. Ab, die Lääda nuna, awwa dalli un dann bleibschd ämol a Schdun aus`m Wassa draus, bis isch dä sag, dass widda noi konnsch. Iss des klaa?«

Mit der Übersetzung des zweiten Teils der Ansprache vervollständigte sich die Demütigung, das Desaster, der Untergang und ich kletterte die restlichen Treppenstufen rückwärts herunter.

Unten angekommen, mit Tränen in den Augen, versuchte ich dem aufgebrachten Bademeister klar zumachen, dass ich lieber doch erst vom Sieben–Meter-fünfzig springen mochte.

»Disch wär isch lehre, misch oliesche zu wolle. Sei froh, dass isch disch net rausschmeiss. Un jetzt geh mä aus de Aage.«

Anlügen? Niemals! Der Sohn meiner Mutter log nicht - jedenfalls noch nicht. Freilich traute ich mich nicht, der angestauten Empörung Luft zu verschaffen. Aber von diesem speziellen Augenblick an respektierte ich Nabo als Chef im Ring. Auch wenn ich ihn in den kommenden Jahren, bei der einen oder anderen Gelegenheit am Beckenrand mit einer wohlgezielten Bombe erwischte. Manchmal glaubte ich sogar, ihn während aller Flucherei lächeln zu sehen. Aber das kann natürlich bloße Einbildung sein.

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